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TANGO-STAR NICOLE NAU

Interview: Katharina Piszczan

Es ist eine Geschichte, die erstaunt, fasziniert und berührt. Nicole Nau ist weltweit die erfolgreichste und bekannteste Tango- und Folklore-Tänzerin. Mit Ende 20 kehrt sie ihrer Heimat Düsseldorf den Rücken zu, um Tango lernen und leben zu können. Dafür wandert sie nach Buenos Aires aus, lernt ihren zukünftigen Tanz- und Lebenspartner Luis Pereyra kennen. Nicole Nau erzählt im Interview mit PURE LEBENSLUST von ihrer außergewöhnlichen Geschichte – wie sie Liebe, Beruf, und ihre Rolle als Kulturbotschafterin in Einklang bringt.
Ihr Leben läuft immer anders, als sie es sich kopfmäßig vorstellt. Niemals hätte sich Nicole Nau vorstellen können, dass sie in Argentinien wohnen würde, Luis Pereyras Frau werden und Tango tanzen würde, noch weniger hätte sie sich vorstellen können eine eigene Kompanie zu gründen. Ein Flyer, den sie auf einer Straße in Düsseldorf fand, animierte Nicole dazu, an einem Tango-Tanzkurs teilzunehmen – bloß der Beginn eines unfassbaren Werdegangs. Heute, mit 52 Jahren, ist es eigentlich ein Wunder, dass sie ihren Beruf noch ausüben kann – aber Nicole Nau tanzt sich mit ihrer Produktion „The Great Dance Of Argentina“ und dem neuen Programm „Vida“ einmal um die Welt und in die Herzen der Zuschauer, denn wer eine ihrer Shows gesehen hat, kommt nicht umhin zu sagen, dass Tango mehr als Tanz ist – es ist ein Fest aller Sinne, ein argentinischer Kulturrausch, der durch faszinierende Folklore-Elemente und mitreißende Musik einmal durch den Zauber dieses Landes führt.

EINE IHRER ERSTEN BERÜHRUNGEN MIT DEM TANGO WAR DIE SHOW „TANGO ARGENTINO“, DIE SIE 1988 IN MÜNCHEN ERLEBT HABEN. DORT HABEN SIE AUCH LUIS PEREYRA ERSTMALS AUF DER BÜHNE GESEHEN – WIE UNGLAUBLICH ERSCHEINT IHNEN RÜCKWIRKEND DER GEDANKE, DASS SIE LUIS DANN ERST JAHRE SPÄTER IN BUENOS AIRES PERSÖNLICH KENNEN LERNTEN UND ER IHR TANZ- UND LEBENSPARTNER GEWORDEN IST?
Das erscheint mir immer noch unglaublich. Die Geschichte ist so verrückt, dass man sagen kann: sowas kann nur das Leben schreiben. Es ist fast zu viel für ein Drehbuch. Diese Zufälle, die keine Zufälle sind. Jeden Morgen, wenn ich meine Augen aufmache, und ihn neben mir aufwachen sehe oder nach ihm aufwache und er sitzt da und trinkt Matetee oder ich komme ins Zimmer und er kocht, wir begegnen uns oder wir arbeiten zusammen oder ich tanze mit ihm auf der Bühne, dann ist es jedes Mal immer noch so – auch weil unsere Liebe zueinander jeden Tag immer noch ein Stückchen mehr wächst –, dass ich das nicht glauben kann. Das ist ein ganz großes Geschenk.

ZU VIEL FÜR EIN DREHBUCH

Ich kann es nicht beschreiben, weil das so etwas ist, wie eine ganz warme Welle, die mich plötzlich erfüllt, unheimliche Dankbarkeit. Jeden Tag aufs Neue rührt, berührt es mich. Ich gebe auch so eine Art „Danke“ nach oben ab, dass ich das wirklich leben darf. Weil ich glaube, dass nicht jeder so eine tiefe Liebe als Erfahrung, so ein Geschenk, bekommt. Ich habe vorher auch nicht gewusst, wie das ist. Man lebt in Beziehungen oder man glaubt, verliebt zu sein, das ist aber weit weg von wirklich lieben.

SIE HABEN DAMALS ALLES STEHEN UND LIEGEN LASSEN UND ALS SIE IN BUENOS AIRES ANKAMEN, ERLEBTEN SIE ZUNÄCHST, DASS DER TANGO DORT VÖLLIG „OUT“ WAR. DAS HAT SIE JEDOCH IN IHREM EHRGEIZ, DEN TANGO ERLERNEN ZU WOLLEN NICHT ABGESCHRECKT?
Abgeschreckt hat mich eigentlich erst die Stadt. Ich bin mit wundervollen Bildern durch die Inszenierung von der legendären Show „Tango Argentino“ in Argentinien angekommen, und habe eine ziemlich verarmte, verstaubte, altmodische Stadt erlebt. Das war sehr schockierend und ich dachte: „Na gut, okay, da muss man einfach suchen“ und dann noch mitzubekommen, dass da nichts ist – ich glaube das hat dann wieder geholfen, dass ich dran blieb. Wenn der Tango so ein Massenläufer gewesen wäre, dann wäre da gar kein Zauber drin gewesen. Ich habe so ein Pioniergefühl und muss selbst kreieren können.

SIE HABEN GESAGT, DASS SIE TANGO NICHT NUR TANZEN WOLLEN, SONDERN MÜSSEN – ER HAT EINE UNHEIMLICHE LEIDENSCHAFT IN IHNEN ERWECKT. TROTZ VIELER HÜRDEN HABEN SIE SICH NIE VON IHREM WEG ABBRINGEN LASSEN. WORIN LIEGT DER ZAUBER, WARUM GEHT IHNEN TANGO SO NAH?
Ich tanze nicht nur Tango, inzwischen tanze ich die ganze Folklore von Argentinien. Das sind verschiedene Bild- und Gefühlswelten. Wenn man die Aufführung sieht, geht das Publikum interessanterweise gerade in der Folklore komplett mit, da explodieren alle Lebensgeister, werden frei, so ist das, wenn man sich von den Fesseln befreien kann, was der Tango noch nicht kann, denn die Folklore aus der Stadt ist nicht so frei. Es schmerzt, wenn ich nicht tanze. Dann breitet sich in mir eine unglaubliche Traurigkeit aus. Beim Tanzen werde ich die Gefühle los. Der Tango reißt so viele Gegensätze an: Traurigkeit-Lebendigkeit, Weiblichkeit-Männlichkeit, Sehnsucht-Liebe, Erfüllung-Einsamkeit. Bei der Folklore in Argentinien gesellt sich das Gefühl von Freiheit dazu. Das geht in so eine Fast-Ekstase über, weil man körperlich auch unheimlich gefordert ist und der Rhythmus trommelt und treibt einen regelrecht nach
vorne.

TANZEN IST MEINE BERUFUNG

Ich arbeite extrem und es ist nicht bezahlbar, was Luis und ich leisten. Unsere ganze Show und die Produktion machen wir selber, daher hat alles, was wir verdienen, einen sehr symbolischen Wert. Wir müssen und wir wollen tanzen. Wir sind nicht nur Tänzer, Luis spielt auch Instrumente, singt und choreographiert. Ich bin Designerin, Tänzerin und Co-Direktorin – wir sind Allround-Künstler. Tanz und Kunst sind mein Leben, Luis und Argentinien sind mein Leben und ich selber, das ist alles eins und nicht voneinander trennbar.

DIE ARGENTINISCHE KULTUR UND MENTALITÄT KENNENZULERNEN WAR EIN LANGER PROZESS. EIN SCHLÜSSELERLEBNIS WAR SICHER, ALS SIE DAS ERSTE MAL LUIS’ FAMILIE BESUCHT HABEN UND AUFGRUND DESSEN SEINE HERKUNFT BEGRIFFEN HABEN, IHN NOCH BESSER VERSTANDEN HABEN. WIE VIEL KRAFT HAT ES SIE GEKOSTET, SICH DARAUF EINLASSEN ZU KÖNNEN?
Ich habe sie wirklich erst in dem Moment, als ich mit Luis zusammengelebt habe, kennen lernen können. Vorher habe ich sie sozusagen zehn Jahre als Gast erlebt, da ich, jedes Mal wenn ich in meine Wohnung kam, die Tür zugemacht habe und mein deutsches Leben hatte. In dem Moment, als ich mit Luis zusammengelebt habe, war diese Kultur plötzlich bei mir zuhause und hat mich umsponnen. Dies sowohl im liebenden, faszinierenden Sinn, wie mein damals zukünftiger Mann mit mir umging als auch plötzlich unglaublich einengend und auch schockierend, weil ich überhaupt nicht verstanden habe, worum es geht.

VERSTÄNDNIS FÜR BEIDE KULTUREN

Es war ein ganz großer Kampf in mir, um das zu greifen, immer wieder einen Schritt aus mir heraus machen zu müssen, um die Situation von außen zu betrachten, zu verstehen, was passiert. Was passiert in Luis‘ Kopf und in seinem Herzen, weshalb regt er sich so auf über etwas, das absolut harmlos ist? Hinzu kam dann natürlich auch der Kampf von ihm und mir. Und da habe ich das erste Mal begriffen, dass es einen riesen Unterschied zwischen Liebe und Beziehung gibt. Ein Liebespaar, das sich liebt, ist eine Sache und die Beziehung, die dieses Paar führt, ist die andere, die es sich nämlich noch erarbeiten muss. Wir haben es Gott sei Dank geschafft, dass unsere Beziehung ihren Weg gefunden hat, dass wir dieses Verständnis füreinander und für die Kulturen beider haben entwickeln können. Luis’ Herkunft ist ja nicht Buenos Aires, sondern karges Land, wo man sieht, wie die Hierarchien laufen und es lebensnotwendig ist, dass die Rollen so verteilt werden. Die Menschen im Landesinneren der Provinz Santiago können nicht, wie wir Deutschen es häufig tun, Dinge abstrahieren und von ihnen Abstand nehmen. In Santiago leben die Menschen an der Überlebensgrenze.

SIE BESCHREIBEN IN IHREM BUCH, DASS EIN MANN UND EINE FRAU IM TANZ EINE EINHEIT BILDEN, ALLERDINGS MIT EINEM EIGENEN INNENLEBEN. SCHAFFEN SIE UND LUIS ES, DIESES EIGENE INNENLEBEN UMZUSETZEN, OBWOHL SIE DIESE UNGLAUBLICHE NÄHE MITEINANDER TEILEN?
Wir schaffen es interessanterweise sehr gut. Wenn man Luis erlebt, sieht man, dass er durch eine unheimlich geballte Männlichkeit geprägt ist und dass er mit einer wahnsinnigen Energie immer nach vorne geht, aber auch sehr sensibel ist. Ich bin in einer Zeit groß geworden, in der alle Frauen sich emanzipieren wollten. Und ich war eher die Altmodische in der Klasse, die da gar nicht mitgemacht hat, die immer gern Frau bleiben wollte und feminin ist. Dieses „Anderssein“ von uns beiden ernährt sich auch davon, anders zu bleiben. Ich würde Luis niemals als meinen besten Freund bezeichnen, aber er ist alles in meinem Leben und ich bin alles in seinem Leben. Wir haben Interessen, die sich gleichen, die wir jedoch mit anderen Augen betrachten. Er macht bei uns die ganzen kräftigen Arbeiten und würde nie auf die Idee kommen, mich Koffer schleppen zu lassen. Dieses „Mann-Frau-Trennen-und-Teilen“, dieses ganz Ursprüngliche, das ist auch ein Geheimnis, um eine Beziehung lebendig zu halten. Das macht uns spannend, sinnlich und auch attraktiv füreinander. Wir werden also nicht ein Einerlei – das macht viel aus. Und im Tanz und bei der gemeinsamen Arbeit ist es so, dass wir wirklich Arbeitskollegen sind, da sind wir nicht mehr Ehemann und Ehefrau. Das ist total voneinander getrennt.

DER „CUT“ MUSS SEIN

Privat ist es so, dass wir zum Beispiel beim Essen nicht über die Arbeit reden, das muss selbstverständlich sein. Wenn der eine kocht, lässt man ihn auch kochen und kommt nicht mit irgendwelchen Sachen, die z. B. den Computer betreffen – das ist Taktgefühl. Auf der anderen Seite sind wir natürlich Vollblut-Künstler, wir arbeiten 24 Stunden rund um die Uhr, wir haben jetzt 90 Termine in elf Wochen, das ist nur mit so einer unglaublichen Liebe und Hingabe zum Tanz zu schaffen. Wenn wir dann abends in unser Hotelzimmer kommen, beginnt das private Leben von Nicole und Luis. Wir haben dann eine Flasche Rotwein mit, den trinkt Luis gerne, und eine Flasche Weißwein, den trinke ich gerne, setzen uns hin, legen die Füße hoch und lassen die Seele baumeln. Wir haben sonst keinen Alltag. Dadurch, dass wir Nachtarbeiter sind, haben wir auch tagsüber nie frei. Wenn man abends tanzt, darf man tagsüber nicht lange spazieren gehen, denn dann werden die Beine müde. Wir dürfen nicht viel trinken, sonst bekommen wir einen dicken Kopf und wir können auch nicht viel essen, weil wir uns sonst nicht bewegen können. Nachmittags mal eben einen Kaffee trinken und dazu ein Stück Kuchen mit Schlagsahne essen geht nicht, weil wir dann abends das Tempo nicht hinbekommen. Das geht nur mit Disziplin. Tanzen tut einfach weh. Bei so einem Powerprogramm, zweieinhalb Stunden eine Show zu tanzen, da kommen Herz und Lunge natürlich ganz schön zum Arbeiten. Der Muskelkater und diese Dauerübermüdung – das ist anstrengend. Aber das ist so eine Anstrengung, bei der man am Ende des Tages sagt: „Puh, du hast was geschafft“ und das fühlt sich natürlich auch toll an.

SIE HABEN EINE UNGLAUBLICHE KARRIERE ERLEBT, IN ARGENTINIEN SIND SIE AUF ZWEI BRIEFMARKEN ABGEBILDET, WIE SEHR RÜHRT UND EHRT SIE DAS ALLES?
Diese Ehrungen haben einfach etwas, das mich immer wieder bestätigt. Ich bin unheimlich erfreut, ich kann mich dann auch für einen Moment wie ein Kind freuen, mir wird dann bewusst, in welchem Verhältnis ich zu allem stehe. In einem Land wie Argentinien als Deutscher auf einer Briefmarke zu sein, das zeigt mir natürlich auch: so falsch kannst du es gar nicht gemacht haben.

KULTUR VERMITTELN

Ich bin mit einer unheimlichen Hochachtung und dem Wunsch daran teilhaben zu dürfen, in diese Kultur gekommen und nehme diese natürlich, indem ich sie aufsauge, erlebe, entdecke und durch das Land reise, mit großer Demut entgegen. Ich amüsiere mich ja nicht in dieser Kultur, sondern ich will sie vermitteln und kennenlernen. Wenn dann so etwas passiert, wie zum Beispiel 2014, als Luis und ich mit den Chaqueño Palavecino aufgetreten sind, wo dann wirklich 20.000 Menschen hinter unserem Auto herlaufen und es anfassen wollen und mich bitten, das Fenster runterzumachen, um mein Haar oder meine Hand anzufassen, da denke ich: mein Gott, was habe ich denn mit diesen Menschen gemacht? Wenn ich diese von Gott gegebene Kraft habe, Menschen so zu berühren, dann scheine ich meine Aufgabe gut übernommen zu haben. Auf der künstlerischen Ebene ist es meine Aufgabe, die Menschen froh zu machen, zu bewegen und zu berühren. Es geht nicht darum, ihnen zu zeigen, was ich kann. Der Applaus des Publikums gilt immer der Kultur. Es geht nicht um mich als Person, ich bin nur ein Medium. Es wird auch nicht der Violine applaudiert und vielleicht auch gar nicht mal unbedingt dem Musiker, sondern der Musik – das ist, was verzaubert.

www.the-great-dance-of-argentina.com

Tanze Tango mit dem Leben
Die Geschichte einer
leidenschaftlichen Liebe.
Nicole Nau
www.tangofolklore.com
Taschenbuch 256 Seiten
Verlag: Bastei Lübbe