„... wir haben gegenüber den Arbeitslosen eine Verantwortung. Wir dürfen ihnen nicht das Gefühl geben, dass sie nicht mehr dazugehören. Und wenn es weniger Arbeit gibt, dann muss man Arbeit neu definieren. Das soll bedeuten, dass man seinen persönlichen Status nicht ausschließlich über die Arbeit definieren kann. Das muss man auch ohne Arbeit schaffen, wir müssen uns Dinge ausdenken, auf denen man seinen Selbstwert aufbauen kann.“
Interview: Ingo Kabutz
JOHAN SIMONS, EINE VERBINDUNG UND ANNÄHERUNG SCHAFFEN, AUCH ZU MENSCHEN, DIE SONST NICHT INS THEATER GEHEN – DAS HABEN SIE FRÜHER SCHON IN DEN NIEDERLANDEN GEMACHT, UND AUCH HIER WURDE ES AUF VERSCHIEDENEN EBENEN VERSUCHT. WIE IST DA IHR ERFAHRUNGSWERT, WIE SCHÄTZEN SIE DIE CHANCEN 2015 EIN?
Dazu erzähle ich eine Geschichte: Im Jahre 1985 habe ich in Holland die Theatergruppe „Hollandia“ gegründet. Unser Prinzip lautete ‚Theater für die Leute machen, die sonst niemals ins Theater gehen‘. Aber das bedeutete nicht, dass man nur einfache Stoffe auf die Bühne bringt. Es ist arrogant zu denken: Jetzt mache ich mal etwas, das jeder versteht. Also muss man versuchen, die Leute auch mit komplexen Geschichten zum Theaterbesuch zu bewegen. Das habe ich bei „Hollandia“ auf unterschiedliche Weise versucht, damals habe ich gesagt: „Wir spielen nicht mehr im Theater! Wir gehen aufs Land und spielen in leer stehenden Fabriken oder Gewächshäusern.“ Wir haben die Leute aus der Umgebung eingeladen, und sie sind tatsächlich gekommen – innerhalb eines Jahres wurden wir in Holland sehr berühmt. Und ich glaube, weltweit war ich einer der ersten, der auf diese Weise gearbeitet hat.
Innerhalb von zwei Jahren hatten wir mit „Hollandia“ das reichste und das Kunstkenner-Publikum Hollands, auch die Menschen aus den Großstädten kamen zu uns aufs Land. Ich habe immer gesagt: Die Leute müssen zu uns kommen, weil ich nie wieder ein anderes Theater machen werde. Nach 15 Jahren doch noch einmal im Theater gespielt. Es gibt ein schönes Beispiel, das verdeutlicht, auf welcher Ebene das damals lief: In einem unserer ersten Stücke ging es um einen der letzten Bauern des 20. Jahrhunderts, also um einen Bauern, der zwei Weltkriege miterlebt hat. Das Stück fängt damit an, dass er dem Publikum seine Geschichte erzählt, und währenddessen stirbt seine zweite Frau auf der Bühne. Die Frau schreit laut und stöhnt und der Bauer sagt dann zum Publikum: „Gut, ein Bauer ohne Frau geht nicht, aber meine erste Frau habe ich viel mehr geliebt als meine zweite Frau!“ Und am Ende des Stücks gibt es eine Szene, in der der Bauer sein Gebiss in den Mund der Frau steckt, und er erklärt auch, warum er das tut. Er gibt ihr sein Gebiss, damit sie noch gut aussieht, auch wenn sie tot ist. Ich habe dann die Leute aus der Stadt gefragt, also die Kunstkenner, was für sie der schönste Moment der Vorstellung war – und dann haben sie gesagt: „Der Moment, in dem der Bauer das Gebiss in den Mund der Frau steckt.“ Dann habe ich gefragt: „Warum denn?“, und bekam als Antwort: „Weil das Kunst ist.“ Am nächsten Tag habe ich dann den Bauern gefragt, was für ihn der rührendste Moment in dem Stück ist, und er hat dieselbe Antwort gegeben. Als ich aber fragte, warum, sagte er: „Das ist die Realität.“
Ich habe ein Verhältnis zu einer Kunst, die immer auch einen Bezug zur Realität hat. Deshalb finde ich es schön, für die Ruhrtriennale oder an anderen Orten zu inszenieren. Auf künstlerischer Ebene bedeutet dieses Festival für mich ein ‚Nach-Hause-Kommen‘. Wenn man ins Theater geht, dann hat man ein Bühnenbild, und das Bühnenbild ist eben das, was es ist – nicht mehr und nicht weniger! Wenn man aber hier, im Rahmen der Ruhrtriennale, in der Jahrhunderthalle ein Bühnenbild baut, dann ist das, jedenfalls für mich, Teil eines großen Ganzen. Das, was um das Bühnenbild herum steht, das Gebäude selbst, ist viel größer als das Bühnenbild. Das heißt, die Realität spielt in dem Fall eine viel größere Rolle als das Bühnenbild. Das Gebäude hat einen großen Einfluss darauf, wie man eine Produktion wahrnimmt. Das kommt einfach viel dichter an die Realität heran, als wenn ich etwas in einem Theater inszeniere. Ich mache gerne etwas im Theater, aber meine große Liebe und meine Kenntnis gilt einfach solchen Räumen, weil auch Tageslicht zum Beispiel immer eine Rolle spielt. Rheingold beispielsweise fängt um 18.30 Uhr an, und während der Aufführung wird es langsam dunkel draußen – dann wird die Geschichte eigentlich erst geboren. Man darf die Leute nicht nur auf die Reise mit ins Stück mitnehmen, sondern auch auf eine Reise dorthin, wo man sich befindet.
SIE VERLASSEN ALSO SOZUSAGEN DEN ‚GUCKKASTEN‘ UND GEHEN MIT DER GESAMTEN INSZENIERUNG IN DIE REALITÄT.
Ja, ganz genau.
WIE SCHAFFEN SIE ES, LEUTE ZUR RUHRTRIENNALE ZU HOLEN, DIE SONST NICHT INS THEATER GEHEN? GLAUBEN SIE AN DAS GELINGEN DIESES VORHABENS?
Ich glaube daran, auch wenn es natürlich schwer wird. Bei Accattone zum Beispiel gibt es nicht nur eine Geschichte, sondern es gibt auch Musik von Bach, aufgeführt unter der musikalischen Leitung von Philippe Herreweghe. Bach ist wirklich jemand, der mich immer berührt hat, und ich glaube, das geht vielen Menschen so. Auch wenn sie vielleicht den Text nicht verstehen – egal –: die Musik gelangt über die Ohren zu ihnen und geht direkt ins Herz. Für mich ist Musik unter den Künsten diejenige, die am reizvollsten ist. Ich finde, das ist einfach eine bewegende Kunstform. Ich meine, wenn man Bach nimmt, dann entsteht in jedem eine gewisse Trauer, aber diese Trauer und die Gedanken sehen in jedem einzelnen völlig unterschiedlich aus – und doch empfinden alle dasselbe Gefühl.
JA, EMOTIONALITÄT PUR.
Genau, es ist Emotionalität pur – das ist es wirklich! Und das ist auch wichtig, damit die Leute Mitgefühl für das Theatergeschehen entwickeln können. Ein solches Mitgefühl muss man einfach verbreiten, damit die Leute mich als Person verstehen und dass es mir darum geht, mit Menschen in Kontakt zu kommen, und zwar nicht unbedingt dadurch, dass man miteinander spricht. Hierbei ist auch die Herkunft jedes einzelnen unwichtig. Außerdem zeichnet sich die Ruhrtriennale natürlich durch ein sehr breites Programm aus, es gibt hohe Kunst, aber auch Technomusik.
DAS IST AUCH EIN BRÜCKENSCHLAG ZUR JÜNGEREN GENERATION, ODER?
Ja, es ist einfach eine Brücke zum Publikum. Ich versuche zum Beispiel, auch bei den Stadttheatern anzudocken – unter anderem mit dem Buch „The Rest is Noise“ von Alex Ross, darin geht es um die Musik des 20. Jahrhunderts. Zusammen mit den Bochumer Symphonikern begebe ich mich in verschiedenen Stadttheatern auf eine Lesereise, und dadurch komme ich mit einem anderen Publikum in Kontakt. Diese Lesungen mit dem Buch in den verschiedenen Stadttheatern fangen im November an.
SIE KOMMEN JA DIREKT VON DEN MÜNCHNER KAMMERSPIELEN – WORIN LIEGT FÜR SIE PERSÖNLICH DER UNTERSCHIED ZU DER ARBEIT HIER BEI DER RUHRTRIENNALE?
Hier muss man die Dinge immer wieder aufs Neue erfinden. Also wir zeigen zum Beispiel Accattone in der Zeche Lohberg in Dinslaken, und da kommt es dann auch wirklich darauf an, eine einfache Theaterstruktur reinzubringen. Man hat ein bisschen das Gefühl eines Zigeuners – ich lasse mich irgendwo nieder und versuche, etwas Schönes zu machen. Man hofft natürlich, dass das Publikum auch kommt. Und in Dinslaken ist es interessant, weil es an Lohberg angrenzt. Und dort spielen wir dann Accattone von Pasolini, ein Stück, in dem der Arbeitslose der Höchste in der Hierarchie ist. Es ist ein wichtiges Stück für mich, weil Arbeit auch ein wichtiges Thema für das Ruhrgebiet ist – keine Arbeit ist ein wichtiges Thema im Ruhrgebiet!
UND KEINE ARBEIT IST AUCH EIN WICHTIGES THEMA FÜR DIE RUHRTRIENNALE.
Ja, ich möchte gerne, dass es ein politisches Festival wird.
IST DER GEDANKE, DASS MIT DER RUHRTRIENNALE NUN VIELLEICHT EIN PARADIGMENWECHSEL STATTFINDEN KÖNNTE, ZYNISCH? ODER IST DIESER GEDANKE GUT?
Nein, das ist ein guter Gedanke.
PASST DENN DAS HIESIGE MENSCHENBILD ZU DIESEM GEDANKEN?
Also zunächst einmal glaube ich nicht, dass es mehr Arbeit geben wird, sondern eher weniger. Viele Leute denken so, und die haben auch gute Gründe dafür, so zu denken. Ich meine, für mich ist das schwierig und, ich werde das auch nicht mehr erleben, aber wir haben gegenüber den Arbeitslosen eine Verantwortung. Wir dürfen ihnen nicht das Gefühl geben, dass sie nicht mehr dazugehören. Und wenn es weniger Arbeit gibt, dann muss man Arbeit neu definieren. Das soll bedeuten, dass man seinen persönlichen Selbstwert nicht ausschließlich über die Arbeit bekommen kann. Das muss man auch ohne Arbeit schaffen, wir müssen uns Dinge ausdenken, auf denen man seinen Selbstwert aufbauen kann. Den Leuten geht es immer um ihren Status, jeder möchte jemand sein und wahrgenommen werden, und das muss sich ändern. Wir müssen anders über Arbeit und Nicht-Arbeit nachdenken. Der Selbstwert darf nicht ausschließlich an die Arbeit gebunden sein.
ES GEHT ALSO UM SELBSTWERT UND UM NEUE IDENTITÄTEN?
Ja, ich muss das Gefühl haben, dass ich etwas wert bin. Zum Beispiel hatte ich ein Gespräch mit dem stellvertretenden Bürgermeister von Lohberg, Eyüp Yildiz. Ein wirklich sehr kluger Kopf. Der sagte uns, dass in Lohberg nur 5% der Schüler auf ein Gymnasium gehen. In den anderen Teilen von Dinslaken hingegen sind es 20% und mehr. Es kann doch nicht sein, dass die Leute, die dort leben, weniger intelligent oder weniger wert sind. Er hat zu mir gesagt: „Was wir mit all unserer Kunst und Kultur vergessen, ist, die imigrantische Bevölkerung an die Hand zu nehmen und ihnen unsere Kultur zu zeigen – wie reich unsere Kultur ist! Wir haben nie gesagt: „Kommt zu uns!“ Er sagte auch, dass durch dieses Verhalten eine verlorene Generation von Anfang 20- Jährigen entstanden ist. Und dadurch fehlt ihnen eine Identität und es fehlt ihnen auch, wahrgenommen zu werden. Damit einhergehend haben wir es mit einem extremen Verlust an Glaubwürdigkeit zu tun, auch in Bezug auf unsere Politiker.
SEIT DEN RUHRFESTSPIELEN HAT ES ZUM TEIL JA AUCH SOLCHE ANSÄTZE GEGEBEN. SEHEN SIE SICH EBENFALLS IN EINER SOLCHEN ENTWICKLUNG?
Heute sind die Probleme natürlich andere, als sie es noch in den 60er Jahren waren. Damals gab es im Ruhrgebiet mehr als 500.000 Menschen, die unter Tage gearbeitet haben. Heutzutage sind es nur noch zwei- oder dreitausend. Die Probleme haben sich verändert, manchmal nennt man das Ruhrgebiet ein ‚Gebiet im Umbruch‘. Aber es ist ein ewiger Umbruch, das ganze Leben ist ein großer Umbruch. Für mich ist es ein wirklich interessantes Gebiet, weil es schwierig einzuordnen ist. Das macht den eigentlichen Reiz für mich aus – das ist wirklich total spannend!
DAS SCHÖNE IST, DASS SIE DIE RUHRTRIENNALE DIE NÄCHSTEN DREI JAHRE FÜR UNS GESTALTEN – DAS IST JA EIN PROZESS.
Das stimmt. Aber eigentlich ist das viel zu kurz, ich bin im Prinzip schon fertig. Natürlich muss ich alles noch organisieren, aber das Programm für drei Jahre ist eigentlich fertig. Man muss sich über die Dramaturgie und vieles andere Gedanken machen, aber ich habe unglaublich kluge Menschen in der Dramaturgie. Ich höre denen gerne zu. Ich weiß zwar vieles über unsere verschiedenen Disziplinen, aber die sind natürlich auch sehr gut informiert. Das Programm für die nächsten drei Jahre kommt dadurch zustande, dass wir als Team zusammen daran arbeiten. Natürlich streben wir mit der Ruhrtriennale einen ‚high standard‘ an, aber man muss auch wissen, wie man diesen verbreitet. Man kann das Programm nicht nur nach denen ausrichten, die die Ruhrtriennale schon kennen, sondern man muss immer versuchen, auch neue Leute dazu zu holen und sie dafür zu interessieren. Ich selbst komme aus einer sehr einfachen Familie, aus einem sehr kleinen Dorf. Ich hatte das große Glück, dass ich mich als Künstler entwickeln konnte, aber das war alles Zufall – mein Leben ist ein großer Zufall! Meine Karriere war nie strukturiert, ich habe eine Zick-Zack-Biografie. Vieles in meinem Leben ist misslungen, bis ich dann irgendwann etwas gefunden hatte, bei denen ich dachte: „Ja, das kann ich.“ Ich finde es falsch, wenn man dann später sagt, dass es einen nicht mehr interessiert, wo man herkommt – es ist wichtig zu zeigen, wo man herkommt.
WAS IST AUS IHRER SICHT DAS SCHWIERIGSTE AN DEM PROJEKT RUHRTRIENNALE?
Ich denke, das ist wirklich die Verbreitung unter dem Publikum. Ich muss natürlich gute Vorstellungen abliefern, ohne Zweifel – wir haben ein sehr gutes und auch ein sehr breites Programm. Ich habe aber die Sorge, dass die Leute zu den ausländischen Regisseuren und Gruppen keinen Zugang haben. Bei Rheingold klopfen die Menschen an den Türen und wollen hereingelassen werden, weil sie dieses Stück kennen. Aber man muss natürlich auch, und ich denke, das ist wirklich ein Problem in Deutschen, ein Interesse für andere Sprachen haben. Polnisch und Niederländisch sind europäische Sprachen, in der Politik hört man immer ‚Europa, Europa, Europa‘, aber die europäischen Sprachen nimmt man hier überhaupt nicht wahr. Das ist schade, denn die Leute sollten diese unglaublich guten ausländischen Regisseure und diese tollen Schauspieler wahrnehmen. Aber das ist wirklich schwierig in Deutschland, finde ich. Die Deutschen haben ihrer Sprache gegenüber einen unheimlichen Stolz, und das verstehe ich auch. Es gibt unglaublich tolle Schriftsteller und Philosophen aus Deutschland. Aber es ist an der Zeit, sich auch für andere Sprachen zu interessieren. Wenn wir ein Europa sein möchten, müssen wir uns auch mit anderen Kulturen und anderen Sprachen auseinandersetzen.