Text: Dr. Thomas Hauffe
Die 20er und 30er Jahre sind in Europa und den USA durch rasante und aufregende Entwicklungen gekennzeichnet. Die Metropolen vibrieren, es entwickeln sich neue Eliten, Konsumgewohnheiten und Lebensstile. Gleichzeitig ist es eine Zeit voller Gegensätze. Krieg, Revolution und Wirtschaftskrise haben Massenarbeitslosigkeit, Armut und Wohnungsnot mit sich gebracht. Ungeachtet dessen führen die finanziellen Eliten in aller Welt ihren gehobenen Lebensstil weiter, stehen Kultur, Unterhaltung, Sport und eine geradezu hektische Vergnügungssucht im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. New York wird die Hauptstadt des 20. Jahrhunderts, Paris zum kulturellen Zentrum. Aus den USA kommen Musik und Tanz: Jazz, Swing und Charleston. Benny Goodman, Josephine Baker und Fred Astaire sind in Berlin ebenso bekannt wie in New York. Die Wirkung des Films, besonders das Vorbild Hollywoods mit seinen aufwändig ausgestatteten Historien-, Revue- und Tanzfilmen, beeinflusst in kaum zu unterschätzender Weise das Leben, die Mode, das Design, sogar Fragen der Moral.
DIE WELT WIRD MODERN – MIT CHANEL AUCH DIE MODE
Es ist eben nicht nur die Zeit des sozialen Wohnungsbaus, sondern auch des Luxus: Ocean-Liner, Luftschiffe und Flugzeuge müssen entworfen, luxuriöse Hotel-Suiten, Kinopaläste und Kaufhäuser eingerichtet werden, Radios, Telefone, erste Fernsehgeräte werden entworfen, ebenso Werbung und Verpackung für die neuen Errungenschaften in Mode und Kosmetik, Luxusartikel, z. B. Zigarettenetuis oder Parfumflakons. Mit dem wachsenden Selbstbewusstsein der berufstätigen Frauen, der Filmstars, der Gattinnen von reichen und neureichen Industriellen wird auch die Mode immer wichtiger. Daher zählen die großen Couturiers – Paul Poiret, Coco Chanel, Jeanne Lanvin und die berühmte Römerin Elsa Schiaparelli – zu den wegweisenden Persönlichkeiten im Design der aufstrebenden Industrie- und Massengesellschaften. Paul Poiret ist einer der wichtigen Initiatoren des Art Dèco-Stils in Frankreich. Er schafft nicht nur in der Mode innovative neue Ansätze, sondern auch in der Zusammenarbeit mit Architekten und Kunsthandwerkern. Er entwickelt außerdem schon 1911 mit einem eigenen Duft als erster ein „Designerparfum“.
DER WEG NACH OBEN – ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE
Indessen ist Poirets junge Konkurrentin Coco Chanel bis heute der Inbegriff eines neuen Denkens in der Damenmode. Vieles an ihr ist sicher einzigartig, aber man kann sie auch als typisches Kind ihrer Zeit betrachten. Sie wird 1883 als eines von sechs Kindern geboren, verbringt nach dem frühen Tod ihrer Mutter mehrere Jahre in einem katholischen Waisenhaus, wo sie das Nähen lernt. Mit zwanzig Jahren ist sie noch eine kleine Angestellte in einem Aussteuergeschäft, arbeitet nebenbei als Schneiderin und singt in einer Bar. Von da an kämpft sie sich zielgerichtet nach oben, was in ihrem Fall bedeutet, dass sie sich auch der richtigen Männerbekanntschaften bedient und die Bedürfnisse der Frauen in ihrer Zeit erkennt. Ab 1904 lebt sie zuerst mit einem wohlhabenden Pariser Industriellensohn zusammen, der ihr ihren ersten Hutsalon finanziert, 1912 eröffnet sie mit dem Geld ihres nächsten Geliebten, einem englischen Bergwerkbesitzer, ihren ersten Modesalon in Paris, 1913 eine Dependance in dem mondänen Seebad Deauville und 1915 in Biarritz. So kommt sie in die richtigen Kreise. Zu ihren Kunden zählen bald neben den gehobenen bürgerlichen Pariser Kreisen auch viele Künstler, Schriftsteller‚ Tänzer und Politiker. Im Laufe der Zeit werden ihr zahlreiche Verhältnisse mit illustren Persönlichkeiten nachgesagt. Während der Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg kollaboriert sie sogar, was ihr 2011 nachgewiesen wurde, mit den Nationalsozialisten, um sich die Anteile ihres inzwischen auf über 4000 Angestellte angewachsenen Modeimperiums zu sichern, die die Nazis zuvor der jüdischen Familie Wertheimer geraubt hatten. Nach dem Krieg wird sie zwar als Kollaborateurin verhaftet, kann sich aber weiterer Verfolgung entziehen und lebt bis 1954 zunächst in Lausanne in der Schweiz.
MODERNE KLASSIKER FÜR ERFOLGREICHE FRAUEN
Das ist die eine Seite ihres Aufstiegs zu einer der reichsten Frauen der damaligen Welt. Die andere Seite ist ihr Gespür für die Bedürfnisse der Zeit und die innovativen Entwicklungen ihrer Mode für die moderne berufstätige Frau in der Großstadt. Ganz ähnlich den Strömungen im Design und in der Architektur der zwanziger Jahre schafft sie eine neue funktionale und sachliche Mode, schnörkellos und praktisch, mit der die Frauen sowohl im Berufsalltag als auch bei festlichen Anlässen elegant und selbstbewusst auftreten können. Sie macht die Röcke kürzer, entwickelt das so genannte „kleine Schwarze“, das Twinset, und ebenso wie schon vor ihr Paul Poiret entwirft sie elegante Hosen für Frauen. Nach ihrer Rückkehr aus dem Schweizer Exil gelingt es ihr 1954, erneut in Paris Fuß zu fassen. Die Pariser Gesellschaft belächelt ihre neuen Kollektionen zunächst, doch in Amerika wird der typische Stil ihrer Kostüme begeistert gefeiert. Weltstars wie Brigitte Bardot, Grace Kelly, Elizabeth Taylor und Romy Schneider lieben Chanel, und das „Chanel-Kostüm“ wird zum angemessenen Business-Outfit für erfolgreiche Geschäftsfrauen in aller Welt. Und nicht nur in der Mode setzt sie neue Standards, sie etabliert schon vor 1920 den Kurzhaarschnitt für Frauen, sie macht den Modeschmuck salonfähig und sie entwickelt 1921 ein eigenes Parfum, das bis heute berühmte „Chanel No 5“. Coco Chanel ist nach Paul Poiret nicht die erste, aber sie praktiziert damit schon damals erfolgreich, was wir heute in der Branche überall erleben: den Imagetransfer einer Marke auf andere Produkte desselben Lifestyles. So wird Coco Chanel zum Inbegriff für Erfolg durch Sachlichkeit, Modernität und Innovation auf der ganzen Linie. Wie keine andere Designerin prägt sie die Mode im 20. Jahrhundert. Noch bis zu ihrem Tod am 10. Januar 1971 arbeitet sie ständig an neuen Kollektionen. Und auch danach lebt der Mythos weiter.
CHANEL
Ein Name - Ein Stil
Jérôme Gautier
ISBN-13: 978-3791345789
Format: 21 x 3,5 x 32,7 cm
Prestel Verlag • www.randomhouse.de